Flowerpornoes

Morgenstimmung

CD

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„Unsere Alben aus den Neunzigern hätten ähnlich geklungen, wenn wir gewusst hätten, wie. Ich finde aber, wir sollten die speziellen Arbeitsweisen – wie die Algorithmen, nach denen die Kompositionen entstanden und das mit den Perspektivwechseln bei den Texten – aus dem Info rauslassen. Das braucht es nicht. Und wo ist eigentlich mein Kaffee?" Tom Liwa riecht nach Farbe und nach einem Sonnentag. Er hat heute die Außenwand seines Hauses gestrichen und kratzt sich mit der Rechten Schorf vom linken Arm.

Ihr wollt es doch auch! Ein Rock-Album der Flowerpornoes. Mit lauten Gitarren und großer Klappe. Kluger Lärm! Wie früher? Nein, wie heute! Kein halbes Jahr nach dem Weird-Ambient-Soloalbum „Der, den mein Freund kannte" schlägt Tom mit seiner Band eine ganz andere Richtung ein – oder schließt er nur mal wieder einen Kreis? „Morgenstimmung" dreht sich sozusagen von außen um die eigene Achse – es wird abgerechnet. Aber wer mit wem, ist nicht ganz klar. Väter kommen zu Wort, Kinder, Exfrauen, Exmänner, Kolleg*innen, ja sogar der Mond und der Hund haben Schonungsloses mitzuteilen. Die Brutalität der Sprache passt zu den direkt ins Blut gehenden Melodien – das hier sind tatsächlich, im wahren Wortsinn: Hits.

Genau einen Tag Zeit brauchte es, um diese wilden Lieder aufzunehmen.  Tom Liwa (Gesang/Gitarre), Giuseppe Mautone (Schlagzeug), Birgit Quentmeier (Keyboards) und Markus Steinebach (Bass) buchten sich in ein Studio in Bochum ein, wo „zufällig" eine Les Paul rumhing, die den Flowerpornoes-2021-Sound entscheidend prägt. „Vor Ort war das getragen von einer Rieseneuphorie, von diesem Schwarmgefühl, das kommt, wenn wir gemeinsam spielen. Wir hatten das fast vergessen", so Tom, der mit Birgit und Markus seit 1977 und mit Giuseppe immerhin auch schon seit 2012 Musik macht. Erst eine Woche vor dem Zusammentreffen schickte er den dreien die Demos (textlose Soloversionen an der Gitarre, mit dem Handy aufgenommen), alle probierten zu Hause rum und übten. Obwohl sie im Grunde ein sehr eingespieltes Team sind, waren sie von der Dynamik überrascht, die das ultraschnelle Arbeiten möglich machte. „Das hatten wir so noch nie", sagt Birgit Q. Sie stellte im Studio erfreut fest: „Wir funktionieren einfach zusammen. Es war eine unglaubliche Energie im Raum. Alle hatten furchtbar Lust zu spielen, es war laut und heftig. Wahrscheinlich musste sich da alles Angestaute Bann brechen." Die Flowerpornoes hatten – wie so viele Bands 2020 – kaum Gelegenheit, gemeinsam zu spielen. Man will ja jetzt nicht mit Klischees wie „sie haben die Live-Atmosphäre eingefangen" anfangen, doch sogar der recht unerschütterliche Markus war erstaunt, wie „sensationell gut" die Band gerade unter den erschwerten Bedingungen klang.  „Es wäre natürlich schön, wenn wir jeden zweiten Tag proben könnten, aber so hat es den Effekt, dass man, wenn es geht, mit besonderer Begeisterung dabei ist." 

„Ich bin seit 2012 dabei und damit der dienstälteste Flowerpornoes-Drummer!" Giuseppe Mautone zupft an seinem Man-Bun herum und grinst: „Auch der mit den meisten eingespielten Minuten. Weiß ich von Birgit, die so was wie das Büro der Band ist. Ein wunderbarer Kontrast zu Tom, der auch schon mal Sachen fragt wie ,in welchem Bund spiel ich in diesem Lied?' oder ,Wo ist mein Kaffee?'. Oh, verrat ich jetzt alles?? " Er lacht, und diese verschmitzte Freude taucht bei allen Vieren auf, wenn sie von der Band reden. „Ich versuche immer, in meinem Spiel auch den Text zu beachten – das ging diesmal natürlich nicht, also habe ich überlegt: Was führt Tom wohl im Schilde? ", erinnert sich Giuseppe. „ Das ist schon wie ein kleines Wunder, wenn man zum ersten Mal alles gemeinsam spielt und es sofort zusammenpasst." Dass keine Zeit war, sich eine „ausgefuchste Begleitung" zu überlegen, und jetzt alles „relativ roh" klingt, wie Birgit es nennt, ist ja gerade der Pluspunkt dieses Albums: „Es klingt anders, als es die Leute vielleicht erwarten, nicht so: ,Hab ich schon tausendmal gehört, Tom Liwa und die Flowerpornoes kennt man ja.'" Man ist eben nie zu alt, um sich selbst und andere zu überraschen! „Als Tom im letzten Jahr, als Corona kam, die Songs von ,Der, den mein Freund kannte' dann doch komplett allein aufgenommen hat, war ich schon ein bisschen traurig. Er schrieb uns, dass er das jetzt abschließen wolle, und danach können wir uns komplett neuerfinden. Das war ja erst mal nur so ein Gedanke, aber nun ist es tatsächlich genau so gelaufen mit der neuen Platte!" 

Für Birgit sind die Songs „ein Lichtstrahl in dieser bescheuerten Zeit". Wobei die Texte, die Tom später zu Hause im Wendland schrieb, natürlich eher Blitzschlägen gleichen. „Ich wundere mich immer wieder über Toms tolle Texte", so Markus. „Vor allem wenn sie so nach wörtlicher Rede klingen, wie ein Sample aus der Realität. Diesmal kommen noch die vielen Perspektivwechsel dazu." Er streicht eine seiner Alfred-Stieglitz-Locken aus der Stirn und erinnert mich daran, dass bei einem dieser Stücke Britta Caspers von The Lost Verses (einer unbedingt entdeckenswerten Band) mitsingt – und zwar ihren eigenen Text.

Natürlich bleiben wir (die unser Freund kannte) dem Weg, den wir mit „Der, den mein Freund kannte" 2020 eingeschlagen haben, treu: „Morgenstimmung" wird am 26. Mai ebenfalls ohne Label, ohne Vertrieb oder andere Industrie-Strukturen veröffentlicht, kein Amazon oder Spotify wird es in die Finger kriegen. Es ist nur bei tomliwa.bandcamp.com und in ausgesuchten Plattenläden erhältlich.

  

Noch Fragen offen? Einige beantwortet Tom Liwa hier....

Mike Mills sagte mal, er war oft enttäuscht, wenn er dachte, er hätte einen eindeutigen Hit geschrieben, und dann hat Michael Stipe so seltsames Zeug draufgedichtet. Und noch mal einige Monate später war er dann sehr dankbar dafür. Kannst Du das bei manchen Songs (Leben wie ein Prinz") nachvollziehen, sozusagen als Mills/Stipe in einer Person?

Der Prozess geht schneller bei mir, da ich beide bin. Da sagt der Stipe schon mal zum Mills: „Schreib mir mal was Zuckersüßes zu dieser offenen Wunde da." Außerdem hab ich ja das große Privileg, dass „Hit" in meinem Fall  nur ein Distinktionsbegriff ohne wirtschaftliche Folgen ist. ;-) 

„Morgenstimmung" geht los mit dem Satz „Sie können auf dich verzichten". Das Ego kriegt ganz schön was ab auf diesem Album. Tut es weh, all das zu singen, oder tut es gut?

Auch das war eine klare Entscheidung: textlich an Orte zu gehen, wo's wehtut. Da ich das allerdings bekanntlicherweise schon öfter gemacht hab, blieben fast nur noch Orte übrig, über die zu singen ich mich früher nicht getraut hätte. Also real shit. Das war mal befreiend und mal beängstigend. Auf jeden fall brauchte ich meine Meta-Ressourcen, um souverän zu bleiben.

Vom Politischen („Konterrevolutionär") geht es schnell ins Persönliche. „Das ist das Leben und nicht der Refrain von einem deiner Scheiß-Songs", heißt es in „Mamas Welt". Kannst Du das überhaupt noch auseinanderhalten, ist das Leben nicht immer potenzielles Material für die Lieder?

Das macht die Härte dieses Satzes ja grade aus: dass jemand da einen Trennstrich zieht, den es für mich erst mal gar nicht gibt oder bis dahin nicht gab. Und das noch mit gutem Recht. Es gibt kaum etwas Einsameres als zwischenmenschliche Definitionshöllen.

Bei allen Verletzungen blitzt ja immer auch viel Liebe auf (Mein Vater war ein Tänzer"), Schmerz und Schönheit liegen nah beieinander („Ich mag Kopfschmerzen"). Zensierst Du Dich eigentlich jemals selbst? Vielleicht auch anderen zuliebe?

Mein Eindruck ist eher, dass ich mich permanent zensiere (und das finde ich auch gut und richtig). Die Instanz in mir, die da die Entscheidungsgewalt hat, ist allerdings nicht vorrangig moralisch, sondern in erster Linie künstlerisch. Und glaub mir: Ich hab mir Skills zugelegt, was das Verklausulieren von allzu persönlichen Dingen angeht - wohlgemerkt: ohne, dass ich Schärfe einbüßen muss.

Auch der Mond ist wieder dabei (Krishna Mond"), das ist vielleicht der krasseste Selbstzweifel-Song von allen. Wie ehrlich können und sollen Lieder sein?  

Die meisten dieser Lieder zweifeln ja nicht mal mehr. Sie behaupten ihre eigene psychische Wahrheit (im Fall „Krishna Mond" sogar eine objektive) und urteilen. Lieder können immer nur so ehrlich sein, wie die Wahrheit (die es ja vermutlich immer gibt) es zulässt. Manchmal ändert sich das auch, und nach ein paar Jahren ist, was wahr erschien, völliger Quatsch. Geht mir mit vielen alten Songs und/oder Vorstellungen, die ich von mir/über mich hatte, so.

No Hate" fällt etwas aus dem Rahmen – Du liest Anwaltsbriefe vor und singst No peace without justice". Was war da los bei Herrn Greiner?  

„No Hate" fällt vor allem dadurch aus dem Rahmen, dass da in der zweiten Strophe mal kurz ich selber spreche und nicht nur irgendwem meine Stimme leihe. Den Briefwechsel hat es nie gegeben. Den Arzt, der erwähnt wird, schon ... und auch die beschriebenen Äußerungen. Hätten wir machen sollen mit dem Anwalt, haben wir aber nicht. Geschichte bewusst umschreiben kann enorme Heilung bewirken. Vermutlich ist unsere Wahrnehmung der Welt eh nur ein Konglomerat aus Narrativen. Und Schmerz sitzt oft nicht in den Tatsachen, sondern darin, wie wir sie betrachten ... sag ich und hör das dunkle, spöttische Lachen des Krishnamonds angesichts solcher Überhöhung.

Bei „Too Much Coca Cola" singt Britta Caspers (The Lost Verses) mit, sie hat auch den Text mitgeschrieben. Wie kam's dazu?

Die Verses, Britta und ihr Mann Christoph, und ich pflegen einen inspirierenden und netten Mailkontakt. Ich schätze ihren Schreibstil sehr, er ragt ziemlich einzigartig aus der flachen Kulturlandschaft da draußen heraus. 

Auch dieses Album gibt's nur bei Bandcamp (und hoffentlich demnächst wieder bei Konzerten). Hat sich die Superindependence ohne Label, Vertrieb und so weiter also bewährt?

Unbedingt. Ich gebe der konventionellen Musikindustrie, egal ob Scheißmainstream oder Scheißindie nicht mehr als sieben, höchstens zehn Jahre noch, und: ich weine dem allen keine Träne nach!! Die einzige denkbare Ausnahme für mich wäre ECM, aber dafür ist „Morgenstimmung" nun echt nicht das richtige Album.

Julian Cope sah es vor etlichen Jahren so: „Ich bin weder zeitgemäß noch zeitlos. Aber mit 60 ist es einem erlaubt, legendär zu sein. Ich muss nur bis dahin den Kopf einziehen und weiterarbeiten." Ein guter Plan? (Bei Tom Liwa wäre es dann am 25. Oktober so weit.)

Hat Cope jemals unrecht? Zumindest seit er, wie er in seiner Biografie schreibt, in seinen „rechtschaffenden Jahren" angekommen ist?? Ein halbes Jahr noch den Kopf einziehen - und vermutlich drei Alben schreiben in der Zeit ... wundervoller Plan!


(Birgit Fuß)

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Veröffentlichungsdatum: 26.05.2021

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